»Die erste ›Verteidigungslinie‹ wird oft im Ausland liegen«: Der neue
Entwurf des Weißbuchs für die Bundeswehr läßt keinen Zweifel an den
Aufgaben deutscher Soldaten. Eindeutig bekennt sich das Dokument, das am
Mittwoch im Kabinett besprochen wird, zur Beteiligung der Bundeswehr an den
Schnellen Eingreiftruppen von NATO und EU. Die Bundeswehr stellt demnach
ihre »Eingreifkräfte« der NATO zur Verfügung, die »weit über die Grenzen
des Bündnisses hinaus« tätig werde. Die »battle groups« der Europäischen
Union, an denen sich die Bundeswehr ebenfalls beteiligt, müssen nur wenig kürzer
treten: Für sie ist ein Aktionsradius von 6000 Kilometer rund um Brüssel
vorgesehen. Als »Zielvorgabe« bestätigt der Entwurf, gleichzeitig 14000
Bundeswehrsoldaten in fünf verschiedene Einsätze entsenden zu können.
Die zum Teil martialischen Formulierungen, die im Frühjahr im ersten Entwurf
des Weißbuches standen, wurden in der überarbeiteten Fassung stark abgeschwächt.
Dennoch ist deutlich herauszulesen, daß Kriegseinsätze der Profitsicherung
dienen sollen. Ein halbes Dutzend Mal wird im Entwurf das deutsche Interesse
»an einem offenen Welthandelssystem und freien Transportwegen« beschworen
und darauf hingewiesen, daß Deutschlands »wirtschaftlicher Wohlstand vom
Zugang zu Rohstoffen, Waren und Ideen abhängt«.
Ausdrücklich erhebt der Entwurf den Anspruch, auch das Inland zum Kampfgebiet
zu erklären. Zwar wird zugestanden, daß die innere Sicherheit vor allem eine
Aufgabe der Polizei sei, aber: »Streitkräfte müssen darauf eingestellt
sein, auch im Inland ihre Fähigkeiten unterstützend« zur Verfügung zu
stellen. Mit dem vom Bundesverfassungsgericht erklärten Verbot des
Luftsicherheitsgesetzes, das den Abschuß entführter Zivilflugzeuge ermöglichen
sollte, will sich die Bundesregierung nicht zufriedengeben.
Dem Spiegel zufolge beharrt Schäuble darauf, die Truppe auch zum Objektschutz
im Inland einsetzen zu können, stößt aber auf den Widerstand der SPD. Diese
scheint damit einverstanden zu sein, daß die Bundeswehr Flugzeuge dann
abschießen darf, wenn dabei keine Zivilisten zu Schaden kommen. Wie das in
der Praxis geregelt werden soll, ist noch unklar.
Als Grundlage für das Handeln der Bundeswehr wird das Völkerrecht
beschrieben. Dieses ist nach Ansicht der Weißbuchautoren allerdings gerade im
Fluß: Die »völkerrechtliche Lehre von der Responsibility to protect«
bestimme »zunehmend das Denken westlicher Länder«. Diese – in der
UN-Charta nicht erwähnte – »Verpflichtung zum Schutz« soll Angriffskriege
legitimieren, die angeblich der »Abwehr humanitärer Katastrophen« dienen,
so wie es 1999 im Krieg gegen Jugoslawien behauptet wurde.